Stadt, Land, krank

15. Jun 2017

Seit Jahren sehen Wissenschaftler einen Zusammenhang zwischen dem Leben in der Stadt und psychischen Störungen wie einer Schizophrenie. Nun haben sie an Zwillingen untersucht, wie das Stadtleben schon Kinder gefährdet. Vor allem zwei Faktoren fielen dabei auf. 

Fast überall auf der Welt zieht es die Menschen in Städte. Gelockt durch Arbeitsplätze, kulturelle Angebote, Mobilität und medizinische Versorgung werden bis zum Jahr 2050 weltweit etwa zwei von drei Menschen in der Stadt wohnen. Nicht nur Städteplaner und Soziologen interessieren sich für die Folgen dieser Umschichtung. Studien zeigen, dass Städter ein doppelt so hohes Erkrankungsrisiko für Schizophrenie besitzen wie Menschen, die eher ländlich wohnen. Das lässt sich schon bei Kindern beobachten. Aber was steckt dahinter? Um mehr über die Ursachen zu erfahren, haben sich Psychologen daher nun die Wohnsituation von Hunderten Zwillingen angeschaut. Ihr Fazit: Die psychischen Störungen zeigten sich besonders häufig dort, wo es an nachbarschaftlichen Zusammenhalt fehlte und Gewalt und Verbrechen erlebt wurden. 

Mehr als 2.000 Kinder haben Wissenschaftler um Candice Odgers von der Duke University sowie Joanne Newsbury und Helen Fisher vom Londoner  King’s College in ihrer Studie untersucht. Sie alle stammen aus einer von Wissenschaftlern gut untersuchten Gruppe von Zwillingen aus Großbritannien und sind zwischen 1994 und 1995 geboren. Um mehr über ihr Umfeld zu erfahren, schauten sich die Wissenschaftler an, wo die Kinder wohnten, sie befragten die Mütter, werteten Daten von Google Street View aus und verschickten Tausende Fragebögen an Nachbarn aus dem gleichen Postleitzahlbereich. Die Wissenschaftler konzentrierten sich vor allem auf vier Fragen: Wie groß ist die Unterstützung und der Zusammenhalt in ihrer Nachbarschaft? Gibt es Unruhen in der Umgebung wie Graffiti, Vandalismus, laute Nachbarn und heftige Streits? Wie groß die Wahrscheinlichkeit eines Eingreifens bei Problemen? Und kommt es zu Gewalt und Verbrechen in der Umgebung?

Anschließend versuchten die Forscher im Gespräch mit den Kindern herauszufinden, wer bereits psychotische Symptome gezeigt hat. Als die Zwillinge 12 Jahre alt waren, sollten sie zum Beispiel erzählen, ob andere Menschen schon einmal ihre Gedanken gelesen haben oder ob sie irgendwann einmal Stimmen gehört haben, die niemand anderes hören konnte. Das Ergebnis: 7,4 Prozent der Kinder, die in der Stadt lebten, hatten schon mindestens ein psychotisches Symptom wie Halluzinationen oder Wahnvorstellungen entwickelt. Bei Kindern aus ländlicheren Umgebungen waren es dagegen nur 4,4 Prozent. Die größten Risikofaktoren waren Verbrechen und der fehlende Zusammenhalt zwischen Nachbarn. Mit Ihnen ließen sich etwa ein Viertel der beobachteten Zusammenhänge erklären, schreiben die Forscher im Fachblatt Schizophrenia Bulletin (2).

Zwar entwickelt längst nicht jedes Kind, das ein psychotisches Symptom zeigt, später auch tatsächlich eine Psychose. Trotzdem erhöhen diese frühen Erfahrungen das Erkrankungsrisiko. Zudem wissen die Forscher aus Studien, dass diese Kinder später häufiger unter Depressionen, posttraumatischen Belastungsstörungen oder einer Drogenabhängigkeit leiden.

„Diese Studie hilft uns, Eigenschaften von Nachbarschaften zu finden, die für die geistige Gesundheit von Kindern sehr schädlich sein können, sagte Candice Odgers. Da psychotische Symptome bei Kindern jedoch selten sind, empfehlen die Wissenschaftler, die Ergebnisse in weiteren Studien zu überprüfen und sich auch weitere mögliche Ursachen wie Lärm oder Luftverschmutzung anzusehen.

Außerdem gilt es, die biologischen Mechanismen zu finden, die hinter den Beobachtungen der Forscher stecken. „Verschlechtert sich durch andauernden sozialen Stress in der Nachbarschaft die Fähigkeit einiger Kinder, mit stressigen Erfahrungen umzugehen?“, fragt Joanne Newbury, in einer Pressemitteilung ihrer Universität. Hinweise darauf gibt es bereits. Wissenschaftler um Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für seelische Gesundheit an der Universität Heidelberg, haben in einer Studie (2) gezeigt, dass Menschen, die in einer Stadt leben oder dort geboren sind, eine stärke Aktivierung der Amygdala und dem cingulären Kortex haben als Menschen, die in ländlicheren Gegenden wohnen. Beide Gehirnbereiche sind daran beteiligt, Emotionen zu verarbeiten. Eine stärkere Aktivierung ist nicht per se bedenklich. Aus Studien weiß man jedoch, dass sie auch mit Depressionen und Angsterkrankungen verknüpft sein kann. Schon damals sagte der Leiter der Studie Lindberg, dass die Studienergebnisse ein erster Hinweis auf ein Gehirnsystem für sozialen Stress seien, das dem Einfluss der Stadtumgebung auf psychische Störungen zugrunde liegen könne.

Copyright © 2016-2017 Nicole Simon / Paul Enck. Alle Rechte vorbehalten.


Quellen:

1. Newbury J, Arseneault L, Caspi A, Moffitt TE, Odgers CL, Fisher HL. Why are Children in Urban Neighborhoods at Increased Risk for Psychotic Symptoms? Findings From a UK Longitudinal Cohort Study. Schizophr Bull. 2016;42:1372-1383. [PubMed]

2. Lederbogen F, Kirsch P, Haddad L, Streit F, Tost H, Schuch P, Wüst S, Pruessner JC, Rietschel M, Deuschle M, Meyer-Lindenberg A. City living and urban  upbringing affect neural social stress processing in humans. Nature. 2011;474:498-501. [PubMed]


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