Risiko Fettleibigkeit

01. Sep 2017

Übergewicht schadet dem Herzen. Aber welche Rolle spielen dabei die Gene? Eine Untersuchung von Zwillingen kommt nun zu einem überraschenden Ergebnis.

Mit zu vielen Pfunden auf den Rippen lebt es sich gefährlich. Schließlich gilt Übergewicht als einer der größten Risikofaktoren für einen Herzinfarkt sowie eine Reihe anderer Krankheiten wie etwa Diabetes. Allein in Europa soll Fettleibigkeit, also extremes Übergewicht, jedes Jahr mehr als 300.000 verfrühte Todesfälle verursachen. Aber macht es einen Unterschied, ob vor allem die Gene oder der Lebensstil für die Kilos verantwortlich sind?

Wissenschaftler um Peter Nordström von der Universität in Umea in Schweden wollten genau das nun herausfinden (1). Und so analysierten die Forscher die Daten von rund 4000 eineiigen Zwillingspaaren, die ganz unterschiedlich schwer waren. Da sich das Erbgut von eineiigen Zwillingen nahezu gleicht, kann es nicht den Genen liegen, wenn sich das Gewicht der Geschwister stark unterscheidet. Viel mehr sind dafür vor allem ein unterschiedlicher Lebensstil und Faktoren aus ihrer Umwelt verantwortlich.

In der Gruppe mit den schwereren Zwillingsgeschwistern lag der Body-Mass-Index (BMI) im Schnitt bei 25,9 und damit leicht im Übergewicht. Die zweite Gruppe war mit einem BMI von durchschnittlich 23,9 normalgewichtig. Im Verlauf von 12 Jahren verglichen die Forscher die Geschwister mehrmals miteinander – mit überraschendem Ergebnis: In beiden Gewichts-Gruppen erlitten etwa gleich viele Menschen einen Herzinfarkt. Selbst die Zwillingspaare, die einen mindestens sieben Punkte höheren BMI hatten oder fettleibig waren, bekamen nicht häufiger einen Infarkt als ihre schlankeren Geschwister. Übergewicht, das fast ausschließlich auf den Lebensstil zurückzuführen ist, scheint nicht für ein erhöhtes Herzinfarktrisiko verantwortlich zu sein. Damit hatten die Wissenschaftler nicht gerechnet. „Wir haben die Ergebnisse schon vor drei Jahren bekommen“, sagte Nordström dem Wissenschaftsmagazin Popular Science, „aber ich konnte nicht glauben, dass sie stimmen“. Also haben sie die Daten noch einmal analysiert und weitere Folgeuntersuchungen der Zwillinge abgewartet.

Auf eine andere Krankheit hatte das Gewicht der Zwillinge dagegen deutlich größeren Einfluss. Mit den Pfunden erhöhte sich ihre Wahrscheinlichkeit für eine Zuckererkrankung. 345 von den schwereren Zwillingen erkrankten an Diabetes, jedoch nur 224 der leichteren Geschwister. Wer abspeckt, kann sich somit auf jeden Fall vor einer Diabetes-Erkrankung schützen, so das Fazit der Forscher. Außerdem zeigte der Vergleich der Zwillinge, dass deutlich mehr Raucher frühzeitig starben.

Und noch etwas fällt an der aktuellen Studie auf. In dem 12jährigen Untersuchungszeitraum starben 550 von den schweren Zwillingen, jedoch 633 von den leichteren. Wahrscheinlich liegt die Ursache dafür in einer Untergruppe von Zwillingen mit einem BMI von höchstens 25. Möglicherweise litten in der Gruppe der dünneren Geschwister besonders viele an chronischen Krankheiten, die sie Gewicht verlieren ließen.

Welchen Einfluss diese Faktoren haben können, zeigen zwei große Studien aus den letzten Jahren. 2013 publizierten Mitarbeiter des Centers for Disease Control und Prevention im amerikanischen Ärzteblatt JAMA die aufsehenerregenden Ergebnisse ihrer Metaanalyse (2) (Auswertung der Ergebnisse vieler unterschiedlicher Studien zu einer Fragestellung). Das Team um Catherine Flegal kam zu dem Schluss, dass Menschen mit Übergewicht ein um sechs Prozent niedrigeres Risiko für einen vorzeitigen Tod hatten, als Normalgewichtige. Ärzte, Wissenschaftler und Journalisten nennen Ergebnisse wie diese daher das Adipositas-Paradoxon.

Die Global BMI Mortality Collaboration, ein Team von 500 Forschern aus 300 Instituten, kam nun jedoch zu einem anderen Ergebnis (3). Denn als die Wissenschaftler die Daten von über 200 Studien mit mehr als 10 Millionen Teilnehmern auswerteten, rechneten sie eine Reihe von Verzerrungen heraus.

Rauchen etwa senkt das Körpergewicht und verteilt das Sterberisko auf Gruppen mit niedrigerem BMI. Das Gleiche gilt für Menschen mit chronischen Krankheiten. Auch sie sind oft dünner und ausgezerrter. Beschränkt man sich bei der Auswertung daher auf Menschen, die nicht geraucht haben, an keinen chronischen Krankheiten leiden oder kurz nach Studienbeginn versterben, verschiebt sich das Bild. Dann zeigt sich, dass schon leichtes Übergewicht das Risiko frühzeitig zu versterben, erhöht.

Daneben können auch weitere Faktoren das Ergebnis von Nordströms Studie beeinflusst haben: So haben die Wissenschaftler nicht das Taillenfett gemessen. Dabei ist der Hüftumfang ein besserer Indikator für Übergewicht als der BMI, der auch über 25 liegen kann, wenn jemand extrem viel Muskelmasse besitzt. Außerdem kann der Untersuchungszeitraum von 12 Jahren zu kurz sein, um die schädlichen Folgen von Übergewicht zu überprüfen.

Ob das Ergebnis Nordströms Bestand hat, werden daher weitere Studien klären müssen.

Copyright © 2016-2017 Nicole Simon / Paul Enck. Alle Rechte vorbehalten.


Quellen:

1. Nordström P, Pedersen NL, Gustafson Y, Michaëlsson K, Nordström A. Risks of Myocardial Infarction, Death, and Diabetes in Identical Twin Pairs With Different Body Mass Indexes. JAMA Intern Med. 2016;176:1522-1529. [PubMed]

2. Flegal KM, Kit BK, Orpana H, Graubard BI. Association of all-cause mortality with overweight and obesity using standard body mass index categories: a systematic review and meta-analysis. JAMA. 2013;309:71-82. [PubMed]

3. Global BMI Mortality Collaboration. Body-mass index and all-cause mortality: individual-participant-data meta-analysis of 239 prospective studies in four continents. Lancet. 2016;388:776-86. [PubMed]


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