Dass Schlafmangel sich auf das Immunsystem auswirkt, haben Forscher schon lange vermutet. Eine neue Studie zeigt jetzt: Stimmt, nur vollkommen anders erwartet.
Man könnte es Verschwendung nennen. Der Mensch verschläft gut ein Drittel seines Lebens. Was könnte man in diesen Stunden nicht alles erledigen? In Wahrheit ist diese Zeit alles andere als vergeudet. Denn die nächtliche Auszeit vom Bewusstsein ist eine Grundvoraussetzung für Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden und damit so wichtig wie gesundes Essen. Dauerhafter Schlafmangel dagegen raubt Lebensqualität, zehrt am Körper und gipfelt am Ende möglicherweise in Herzproblemen, Übergewicht, Diabetes oder schlimmeren. Ratten, die Forscher gänzlich vom Schlafen abhielten, starben nach einiger Zeit jämmerlich.
Wissenschaftler vermuten, dass vor allem das Immunsystem hinter den schädlichen Wirkungen von zu wenig Schlaf steckt. Bisher gingen einige von ihnen davon aus, dass der Mangel das Immunsystem aktiviert. Darauf deuten auch einige Studien hin. Untersucht wurde der Schlafentzug jedoch vor allem im Labor. Dass die Ergebnisse unter realen Bedingungen anders aussehen können, musste nun die Forscher um Nathaniel Watson von der University of Washington feststellen: Sie beobachteten das Gegenteil (1).
Für die Untersuchung wählten die Forscher elf eineiige Zwillingspaare. Voraussetzung war, dass sich die Geschwister in ihrem Schlafverhalten um mindestens eine Stunde unterschieden. So konnten die Wissenschaftler ausschließen, dass die Gene für die Differenzen in der Schlafdauer verantwortlich waren, denn die unterscheiden sich bei eineiigen Zwillingen so gut wie gar nicht. Auch frühe Einflüsse aus den Familien kommen nicht infrage, weil denen beide Zwillinge ausgeliefert waren. Die Unterschiede müssen also vor allem durch individuelle Umwelteinflüsse bedingt worden sein, wie zum Beispiel die Arbeitsplatzsituation.
Anschließend ermittelten die Wissenschaftler die Aktivitätsmuster der Probanden über zwei Wochen mit einem Aktigraphen, einem einer Pulsuhr oder einem Fitness-Tracker vergleichbaren wissenschaftlichen Gerät, das Bewegungen durch einen Sensor erfasst. Außerdem mussten die Teilnehmer ein Schlaftagebuch führen.
Nach zwei Wochen wurde ihnen Blut entnommen. Um den Einfluss des Immunsystems zu untersuchen, konzentrierten sich die Wissenschaftler auf Leukozyten. Das sind weiße Blutkörperchen, die eine wichtige Rolle bei der Immunabwehr spielen. Sie isolierten die Leukozyten aus den Blutproben und untersuchten die Genexpression mit Hilfe von Mikroarrays. Gene enthalten den Bauplan für bestimmte Moleküle, meistens sind das Proteine. Damit das Protein gebaut werden kann, muss es vorher abgelesen werden. Bei welchen Genen das alles gerade passiert, lässt sich mit dieser Methode messen.
Es zeigte sich, dass bei Zwillingen, die weniger schliefen, jene Gene und Signalwege unterdrückt wurden, die für eine Immunantwort oder eine Entzündungsreaktion wichtig sind. Damit hatten Watson und seine Kollegen nicht gerechnet. Sie verglichen ihre Ergebnisse mit anderen Publikationen zu dem Thema.
In einer finnischen Studie (2) durften neun gesunde, junge Männer fast eine Woche lang in den Laboren des finnischen Instituts für Arbeitsschutz nur jeweils vier Stunden pro Nacht schlafen. Vor und nach dem Schlafentzugstest untersuchten die Wissenschaftler die Genexpression der weißen Blutkörperchen. Die Ergebnisse verglichen die Forscher mit Daten von vier Männern, die nachts acht Stunden schlafen durften: Acht der 25 am stärksten hochregulierten Gentranskripte standen in direktem Zusammenhang mit dem Immunsystem. Auch 15 der 25 am meisten angekurbelten Stoffwechselwege hatten mit Aufgaben im Immunsystem zu tun.
Die Unterschiede der beiden Studien hätten kaum deutlicher ausfallen können. Wurde der Schlaf kurzzeitig unter Laborbedingen gestört, antwortete der Körper darauf mit einer Aktivierung des Immunsystems und Entzündungsreaktionen. Schliefen die Probanden dagegen unter natürlichen Bedingungen sowieso immer recht kurz, dann passierte das Gegenteil.
Nun war Watson´s Studie mit 22 Teilnehmern recht klein. Und auch die gemessenen Unterschiede im Erbgut waren nicht sehr deutlich. Die Aktivität der meisten aufgeführten Gene hat sich nicht einmal verdoppelt oder halbiert. Ob chronischer Schlafmangel also tatsächlich zur Unterdrückung von Teilen des Immunsystems und seinen Signalwegen führt, müssen weitere Studien zeigen.
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Quellen:
1. Watson NF, Buchwald D, Delrow JJ, Altemeier WA, Vitiello MV, Pack AI, Bamshad M, Noonan C, Gharib S. Transcriptional Signatures of Sleep Duration Discordance in Monozygotic Twins. Sleep 2017;40(1). doi: 10.1093/sleep/zsw019 [PubMed]
2. Aho V, Ollila HM, Rantanen V, et al. Partial Sleep Restriction Activates Immune Response-Related Gene Expression Pathways: Experimental and Epidemiological Studies in Humans. PLoS One 2013;8(10):e77184. [PubMed]