Fast überall steigen die Diagnosezahlen für ADHS. Gibt es heute wirklich mehr Kinder mit dem Zappelphilipp-Syndrom? Eine schwedische Studie lässt etwas anderes vermuten.
Wie ein innerer Antrieb, der nie still steht, so beschreiben Betroffene, was in ihrem Kopf passiert. Sich auf eine Sache zu konzentrieren, ist Menschen mit ADHS oft fast unmöglich. Und während das Gehirn der Betroffenen dauernd neue Eindrücke von außen aufnimmt, die es nicht ignorieren kann, ist auch ihr Körper ständig in Bewegung. Rund um den Globus leiden aktuell etwa fünf Prozent der Kinder an ADHS, dem Zappelphilipp-Syndrom. Das sah nicht immer so aus: Die Zahl der Betroffenen scheint seit Jahrzehnten zu steigen. Schweden etwa erlebte Studien zufolge einen siebenfachen Anstieg der Diagnosen bei zehnjährigen Kindern zwischen den Jahren 1990 und 2007 (1). Ähnliche Steigungen sind auch aus anderen Ländern bekannt. In Deutschland stieg die Häufigkeit von ADHS-Diagnosen zwischen 2009 und 2014 bei 0- bis 17-Jährigen von 5,0 Prozent auf 6,1 Prozent (mit einem Maximum von 13,9 Prozent bei 9-jährigen Jungen) (2). Nimmt man die Verschreibungshäufigkeit von Ritalin als Maß für ADHS-Erkrankungen, so kam eine Studie aus Großbritannien sogar zu noch weitreichenderen Veränderungen: 2013 nahmen dort rund 34 mal mehr Kinder unter sechszehn Jahren Ritalin ein als noch 1990 (3).
Wie lässt sich so ein Anstieg erklären? Wird eine Diagnose heute zu früh gestellt? Oder sind ADHS-Symptome tatsächlich häufiger? Letzteres hat eine schwedische Studie (4) mit über 20.000 Teilnehmern untersucht.
Wissenschaftler um Mina Rydell vom schwedischen Karolinska Institutet durchforsteten dazu die Daten einer laufenden Untersuchung mit schwedischen Zwillingen. Seit 2004 werden die Eltern aller in Schweden geborenen Zwillinge jährlich in einem Telefoninterview zu der körperlichen und psychischen Verfassung ihrer Kinder befragt, und zwar sobald diese neun Jahre alt sind (5). Teil des Interviews sind auch Fragen zu möglichen ADHS-Symptomen, etwa, ob das Kind Schwierigkeiten hat, seine oder ihre Hände still zu halten oder sitzen zu bleiben. Die schwedischen Forscher konnten mit diesen Informationen verschiedene Gruppen identifizieren. Solche mit klaren ADHS Symptomen, Zwillinge mit unterschwelligen Merkmalen oder gar keinen ADHS Symptomen.
Im Laufe von zehn Jahren (2004-2014) zeigten immer etwa 2,1 Prozent der Teilnehmer (406) diagnoserelevante ADHS Symptome. Einen Anstieg gab es in dieser Zeit nicht.
Trotzdem haben sich die von Ärzten gestellten ADHS Diagnosen – das zeigte ein Vergleich der Wissenschaftler mit Daten aus dem nationalen Patientenregister –zwischen 2004 und 2014 verfünffacht. Wie kann das sein? Die einzig nennenswerte Veränderung konnten die schwedischen Forscher bei den unterschwelligen ADHS-Symptomen beobachten. Ihr Anteil stieg zwischen 2004 und 2014 von etwa zehn Prozent auf 14,76 Prozent an.
Wenn jedoch nur milde Formen von ADHS-Symptomen zunehmen, dann müssten für den Anstieg der ADHS-Diagnosen nach dieser Studie andere Faktoren verantwortlich sein wie zum Beispiel ein besserer Zugang zum Medizinsystem. Auch die größere Aufmerksamkeit, die die Krankheit über die Jahre bekommen hat, könnte eine Rolle spielen, genauso wie Überdiagnosen.
Bedenken sollte man bei der Interpretation der Ergebnisse jedoch auch die Schwächen der Studie. Die Daten auf die sich die Untersuchung stützt, stammen aus Befragungen von Eltern, was nicht die sicherste Informationsquelle ist. Die feine Abgrenzung der normalen kindlichen Entwicklung zur ADHS ist oft schwer zu bestimmen. Daher braucht es für eine ADHS Diagnose auch immer mehr als die alleinige Beobachtung aus dem Elternhaus. Und auch die Tatsache, dass nur Zwillinge untersucht wurden, kann sich auf das Studienergebnis gewirkt haben.
Copyright © 2016-2017 Nicole Simon / Paul Enck. Alle Rechte vorbehalten.
Quellen: